Charles Mingus on his 100th birthday
Jazz giant with a Black Lives Matter flair
April 21, 2022 by Roland Spiegel
Charles Mingus was an unruly giant who outraged those around him – and a creative behemoth who left behind compositions and recordings that made history. This year Charles Mingus would be 100 years old. He was born in Arizona on April 22, 1922 and died in Mexico on January 5, 1979. His works and his life reflect Afro-American identity like few others – and in times of “Black Lives Matter” are more relevant than ever before.
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Alles, was er tat und an sich hatte, trug das Zeichen “übergroß”. So beschrieben Freunde den Bassisten und Bandleader. Halbe Sachen machte Charles Mingus nicht. Extra-extra kraftvoll war sein Ton, extra-extra lang und gewaltig kamen manche seiner Stücke daher, und extra-extra entschieden war sein Verhalten. Einem Konzertveranstalter, der nicht ihn, sondern sein Bandmitglied Eric Dolphy auf einem Plakat abgebildet hatte, haute Charles Mingus kurzerhand den Begrüßungs-Blumenstrauß um die Ohren; dem Posaunisten Jimmy Knepper schlug er im Streit einen Zahn aus; den Flötisten Herbie Mann soll der wütend auf die Bühne gestürmte Mingus bei einem Konzert mit einer Trommel beworfen haben, weil er dessen geglättete Variante einer afrikanisch gefärbten Musik nicht ertrug.
Und geradezu extra-extra mystisch waren der Legende nach die Ereignisse an dem Tag, als Charles Mingus starb. 56 Jahre alt, in Mexiko. An diesem Tag sollen an der mexikanischen Küste 56 Wale gestrandet sein und dabei ihren Tod gefunden haben. Charles Mingus – ein Mann mit extra-extra Resonanz.
Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus
Eines seiner berühmtesten Stücke heißt “Haitian fight song”. Eigentlich, so sagte Mingus einmal, müsste dieses Stück “Afroamerikanischer fight song” heißen. Er könne es nicht spielen, ohne an Vorurteile, Hass und politische Verfolgung zu denken. Folk-Wurzeln und bluesige Aufschreie, Soul-Feeling wie in schwarzer Kirchenmusik und enorme Energie enthält dieses Stück. Sehr typisch für seinen Urheber. In einer anderen Version war das Stück auf einem Album namens “Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus” zu finden. Richtig gelesen: Fünfmal der Name des Bandleaders – das war nicht verwunderlich bei einem Musiker, der keine Kompromisse machte und keine falsche Bescheidenheit kannte. Ein XXL-Mann des Jazz – und vielleicht sollte man statt der zwei X sogar drei bis fünf setzen.
Charles Mingus Sextet, at the Konserthuset Stockholm, Sweden, April 13th, 1964 (Colorized)
“Unterhalb des Underdog”
Ein ungewöhnliches autobiographisches Buch von Charles Mingus hieß “Beneath the underdog: His world as composed by Mingus”, das 1971 erstmals erschien – zu Deutsch hieße dieser Titel ungefähr “Unterhalb des Underdog: Seine Welt, wie Mingus sie komponierte”. In diesem Buch lautete eine Passage gleich auf der ersten Seite wie folgt:
Auszug aus dem Buch “Beneath the underdog: His world as composed by Mingus”
Charles Mingus: “Mit anderen Worten: Ich bin drei. Der eine steht immer in der Mitte, unbekümmert und unbeteiligt. Er beobachtet und wartet darauf, den anderen beiden sagen zu können, was er sieht. Der zweite ist wie ein ängstliches Tier, das angreift aus Angst, selbst angegriffen zu werden. Und dann ist da noch ein liebevolles, sanftes Wesen, das jeden in die entlegenste und heiligste Kammer seines Innern lässt. Es wird beleidigt, unterschreibt vertrauensvoll Verträge, ohne sie zu lesen, und lässt sich überreden, umsonst zu arbeiten. Wenn es jedoch merkt, was mit ihm gemacht wird, dann möchte es alles und jeden in seiner Umgebung umbringen, auch sich selbst, für seine Dummheit. Doch es kann nicht – es zieht sich wieder in sich selbst zurück.”
Charles Mingus litt unter seiner hellen Haut
So schrieb Charles Mingus über sich selbst – in seiner ausufernden, überbordenden Autobiographie, die aus der ständig wechselnden Sicht der drei verschiedenen Personen geschrieben ist, in die der Musiker sich selbst unterteilt sah. Das Buch – und auch Mingus’ Musik – erzählt vom Leben eines Zerrissenen. Denn das Dasein des Jazzmusikers Charles Mingus war geprägt von Identitätskrisen. Mingus wurde in Arizona in eine Familie mit afrikanischen, europäischen und chinesischen Wurzeln hineingeboren. Wie sein Vater, der Sohn eines Afroamerikaners und einer Schwedin, war Mingus selbst sehr hellhäutig. Doch während der Vater, Charles Mingus sr., seine eigene relativ helle Haut als Privileg empfand, litt der Sohn, Charles Mingus jr., darunter.
Seine Witwe Sue Mingus erzählt in dem wunderschönen Buch “Tonight at noon”, in dem sie liebevoll von ihrem schwierigen Leben mit dem großen Musiker berichtet, dass Charles Mingus besonders stolz war, als der Trompeter Miles Davis ihm mit den Händen über die Wangen fuhr und ihm dadurch symbolisch etwas von seiner “Schwärze” gab. Charles Mingus fühlte sich wegen seiner gemischten Herkunft zuweilen noch “unterhalb eines Underdogs”. Daher trug seine Autobiographie den expressiven und zunächst rätselhaften Titel “Beneath the underdog”.
Die Zerrissenheit des Charles Mingus jr. spürt man in seiner Musik – viele Rhythmuswechsel, starke atmosphärische Kontraste, große Spannung zwischen den Instrumentengruppen. Es ist Musik, die aufrüttelt, die Gegensätze vereint, aber nirgends einebnet.
Jazz Icons Charles Mingus Live in ’64
Musik im Dienst der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
Mingus schuf keine Musik zum Schwelgen und Dahinträumen, sondern er suchte nach Klängen, die manchmal wie musikalisch ausgelebte Konflikte anmuten. Mingus nahm auch direkt Bezug auf politische Ereignisse und stellte seine Musik immer wieder in den Dienst der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. In dem Prolog “It was a lonely day in Selma, Alabama”, den er in einer Aufnahme seinem ebenfalls programmatischen Stück “Freedom” voranstellte. Hinter dem Titel “It was a lonely day …” verbirgt sich ein Ereignis, das als blutiger Sonntag in die Geschichte einging. In der Stadt Selma in Alabama marschierten 1965, angeführt von Martin Luther King, Bürger in Richtung des 85 Kilometer entfernten Montgomery, um für das Wahlrecht für Schwarze zu demonstrieren. Doch am Rande von Selma wurden 600 friedliche Demonstranten von der Polizei mit Knüppeln und Tränengas am Weitermarschieren gehindert.
In eine Reihe mit diesem Stück gehören auch “Remember Rockefeller at Attica” und “Fables of Faubus”. Beide nehmen ebenfalls auf konkrete Ereignisse Bezug. In Attica, New York, wurde 1971 auf Veranlassung des Gouverneurs Nelson Rockefeller ein Gefängnis-Aufstand niedergeschlagen. 39 Menschen kamen dabei ums Leben. Der Aufstand war entstanden, nachdem in einem anderen Gefängnis, demjenigen von San Quentin, ein Schwarzer Gefangener und politischer Aktivist bei einem Ausbruchsversuch erschossen worden war.
Ein Song gegen einen rassistischen Gouverneur
Und “Fables of Faubus”, möglicherweise das berühmteste politische Stück von Mingus, bezieht sich auf eine rassistische Entscheidung des Gouverneurs von Arkansas, Orval E. Faubus. 1957 hatte Faubus die Nationalgarde eingesetzt, um afroamerikanische Schüler in der Stadt Little Rock daran zu hindern, eine Schule zu betreten, die auch weiße Schüler besuchten. Mingus nannte daraufhin “Fables of Faubus”. Das Stück hatte er bereits fertig, als er nach einem Titel suchte. Da bat er seinen Schlagzeuger Dannie Richmond: “Nenn mir jemand Lächerliches, Dannie”. Und Dannie Richmond fiel ein: Gouverneur Faubus. Da stand der Titel fest. Es gab dazu auch einen Text, der einer späteren Aufnahme als Sprechgesang beigefügt wurde. In der Originalaufnahme tauchte der jedoch noch nicht auf, da die Plattenfirma Columbia das für zu riskant hielt.
Charles Mingus:
“Ich war immer der Überzeugung, dass Leute, egal, welche Arbeit sie machen, sich ganz und gar in sie reinschmeißen sollten – mit all der Diskriminierung, die sie dabei riskieren. Ich erinnere mich, dass wir einmal in Jugoslawien ‘Faubus’ und ‘Remember Rockefeller at Attica’ spielten, und da kam dieser Typ von der U.S.-Botschaft dahergerannt und forderte mich auf, keine Stücke mit Titeln wie diesen zu spielen. Ich sagte ihm: ‘Wissen Sie, man, wir kommen aus einem freien Land. Wir sollen den Leuten hier zeigen, wie großartig unser Land ist, indem wir sie wissen lassen, dass wir über das sprechen können, was in unserem Land falsch und was richtig ist, während sie selber das nicht dürfen’. Er war nicht übel drauf, aber er klang, als hätte er vergessen, dass er aus Amerika war.”
Mingus als Vorreiter der “Black Lives Matter”-Bewegung
Charles Mingus’ kompromisslose Musik, die auf Gewalt gegen Afroamerikaner reagierte und afroamerikanisches Bewusstsein besonders ins Blickfeld rückte, ist heute aktueller denn je. Die gewaltsame Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizeibeamten liegt noch keine zwei Jahre zurück. Und erst kürzlich ging eine weitere Nachricht von einer gewaltsamen Tötung eines Afroamerikaners durch einen weißen Polizeibeamten: Der Polizist schoss im Bundesstaat Michigan einen Afroamerikaner bei einer Verkehrskontrolle in den Hinterkopf. Heute macht die 2013 gegründete Protestbewegung “Black Lives Matter” auf Ereignisse wie diese aufmerksam: Ohne dass das Motto “Black Lives Matter” zu Charles Mingus’ Zeiten schon existierte, war das Anliegen, auf Unrecht und tödliche Gewalt gegen Afroamerikaner aufmerksam zu machen, ein wichtiges Thema im Schaffen des Musikers Charles Mingus.
“Der zornige Baron”
Mingus’ Musik war also bei weitem nicht nur Musik eines Besessenen, eines Schrankenlosen und Unmäßigen. Sondern es war auch die Musik eines aus berechtigten Gründen zornigen, zerrissenen Mannes. Über fünfhundert Seiten eingehende Untersuchungen dazu – mit vielen erhellenden Fakten als Hintergrund – kann man in einem Buch lesen, das 2010 erschienen ist. Es stammt von dem Musiker und Musikwissenschaftler Hans-Joachim Heßler und heißt: “Der zornige Baron. Das Prinzip Diskontinuität im Leben und konzeptkompositorischen Schaffen des Charles Mingus jr.” Das Buch ist eine Doktorarbeit und enthält einen theoretischen Teil, den man guten Gewissens überspringen kann.
Aber danach bietet es fundierte Analysen von Mingus’ Kompositionsstil vor dem Hintergrund einer US-amerikanischen Gesellschaft, in der dieser kreative Unruhestifter keinen Frieden finden konnte. Die Musik eines Freigeistes, der mit seinen Tönen für Gleichberechtigung und gegen einen immer noch erschrecken präsenten Rassismus kämpfte. Im Titel lehnt sich dieses Buch daran an, dass Mingus sich in früher Zeit “Charles ‘Baron’ Mingus” nannte – in Anlehnung an sein Idol Duke Ellington. Ellington, der große Jazzkomponist, der als erster Jazz zur Kunstmusik erhob, hieß eigentlich Edward Kennedy Ellington – und wegen seiner feinen Manieren nannte man ihn Duke, den Fürsten. Neben ihm gab es schon einen Grafen: William ‘Count’ Basie. Blieb für Mingus also der Titel eines Barons. Den nahm sich der junge Musiker, um sich damit vor seinem Idol Duke Ellington zu verbeugen – und um zugleich den Jazz als adlige Kultur zu propagieren.
Charles Mingus – Devil’s Blues – Live At Montreux (1975) [1-12]
Take the bass – and not the cello!
Charles Mingus grew up in a suburb of Los Angeles. His mother had died the year he was born, and Mingus lived with his father, stepmother and sisters. His stepmother liked classical music, and the children learned instruments. Charles was initially enthusiastic regarding the cello, but later switched to bass under the influence of saxophonist, flautist and clarinetist Buddy Collette. Collette was already Mingus’ school friend, they made music together, and Buddy Collette insisted that African American music should have a bass and not a cello. Charles Mingus wanted to make black music ever since he heard Duke Ellington on the radio when he was twelve. That was his musical identity from then on – and thus the identity that this American with African, European and Asian roots was also looking for as his personal identity from that point on.
Human history set to music
His music was also: the music of an upright person – because Mingus was particularly concerned with walking upright. And it is no coincidence that he explicitly dedicated what is perhaps his strongest composition to this theme. A 1956 tone poem lasting over ten minutes called Mingus “Pithecanthropus erectus”. Pithecanthropus erectus refers to “upright early humans” who lived around a million years ago, also called “Java humans”. Mingus also created a so-called program for the piece of the same name: It consists of four sections with the following titles. 1. development to walk upright, 2. feelings of superiority and will to dominate the world, 3. descent, 4. destruction. Mingus means, according to his own accompanying text, man’s resurrection from his roots and eventual downfall, conditioned, according to Mingus, by his inability to recognize the liberation of those he has subjugated and his greed for a false security. That means: those who oppress others dig their own grave. And: If you allow others to walk upright, you will be able to keep yourself on your feet longer. And even this piece, which sounds like a constant struggle, might not be more topical in a year in which humanity is giving particularly strong evidence that it is not learning anything.
A drastic love story
A still outstanding book regarding Charles Mingus was written by his widow, Sue Mingus. It’s called “Tonight at noon”, also in the German language edition. A love story, says the subtitle, and that’s it: it’s a portrait full of tenderness. That is not a matter of course. Because Charles Mingus, this uncouth giant, broke into the life of the occasional film actress like a natural phenomenon in 1964. When she was introduced to him at the Five Spot Cafe, a Manhattan jazz club, he said to her, “If I were your daddy, I would have your teeth fixed.” But it wasn’t long before he was courting the mother of two, who had just come through a breakup, by all means. He once climbed onto someone else’s car roof to serenade her and was promptly arrested; he rented a room across from her and let an elaborate light show flicker out of his window all night long, in which images of glowing crosses and ejaculating phalluses alternated. Charles Mingus, a drastic one.
Sue Mingus, who was Charles’ fourth and last wife from 1966 until Charles’ death in 1979, still takes care of the artistic legacy of the great boisterous. She experienced immensely inspiring and immensely stressful hours with him, so that she sometimes wished, in her own words, to pay money at the entrance to a jazz club, listen to Mingus’ great music and finally go home as a free woman. But she became Mingus’ great confidante.
25 drinks for Charles Mingus alone
Charles Mingus, the great intemperance of jazz history, was a most uncomfortable figure in life. You can read nice anecdotes regarding this in Sue Mingus’ book. When a waiter wanted to move him and Sue from a table of four to a table of two, Mingus quickly ordered four main courses – and ate three of them himself. When a bartender pointed out that he might not mix an elaborate drink for himself, Mingus ordered 25 of them . When the famous French playwright Jean Genet introduced himself to him with the words “I know your son”, Mingus only said, “I know him too”, and Genet just left. Mingus pinned a note to his own door that read, “I’m gone contemplating my solitude.” When he felt like it, he hooked up a mechanical laughter to his answering machine, which emitted a tinny cackle for a minute and a half.
Charles Mingus – Sue’s Changes – Live At Montreux (1975) [6-12]
“I won’t be there at my funeral”
Sue Mingus describes her late husband as a berserker, but who also had traits of immense sensitivity. You can feel that in Mingus’ music. These are not the tones of a rough block. Mingus died in 1979 from Lou Gehrig’s syndrome, a muscle wasting disease that had afflicted him a few years earlier. Most recently, he and his wife pinned their hopes on miracle healers in Mexico. But cures with hot potatoes, herbal poultices and much more were of no use. Mingus died while his wife was on her way to get visas to return to the United States. She threw his ashes into the Ganges, according to a mutual agreement. Shortly before Mingus’ death, his son Eugene had asked his father how he imagined his funeral. Mingus didn’t say a word to him regarding the Ganges, instead he threw out laconically: “Do what you want, I won’t be there.”
The sound of human limitations – in XXL
Charles Mingus, who would be a hundred years old now, is still very much there with his music, 43 years following his death. The unruly tones of this musician who refused to be forced into a corset are still captivatingly lively and fresh. And not harmless for a second: This is precisely why it is one of the tones that the current world might use particularly well. She doesn’t embellish anything and pushes people to their own limitations – especially those in XXL format.
radio tips
Jazztime, 22. April 2022: Jazz Unlimited
A storm that is very topical: the bassist and composer Charles Mingus, one of the most important figures in modern jazz, would have turned 100 on April 22, 2022. This show portrays this extraordinary musician and bulky person.
Moderation and selection: Roland Spiegel
Jazztime, 25. April 2022: Jazztoday
For the 100th birthday of Charles Mingus
The powerful American bassist and composer in mostly unknown recordings from the 1940s to 1960s
Presented by Henning Sieverts